Zielinduzierte Verhaltensoptimierung:

Was ist Ethik?

zuletzt aktualisiert: 28. August 2011

Bei Wikipedia habe ich gefunden:

Die Ethik „das sittliche (Verständnis)“, ist eines der großen Teilgebiete der Philosophie und befasst sich mit Moral, insbesondere hinsichtlich ihrer Begründbarkeit.

Die Ethik – und die von ihr abgeleiteten Disziplinen (z. B. Rechts-, Staats- und Sozialphilosophie) – bezeichnet man auch als „praktische Philosophie“, da sie sich mit dem menschlichen Handeln befasst (im Gegensatz zur „theoretischen Philosophie“, zu der die Logik, die Erkenntnistheorie und die Metaphysik als klassische Disziplinen gezählt werden). soweit Wikipedia.

Es geht also um praktische Philosophie oder kurz um Praxis, um die Frage, wie praktiziere ich, wie handle ich. Und genau das ist das, worum es dem Buddha ging: nicht um theoretische Philosophie, die er als ditthi bezeichnete, als Ansichten, sondern um Praxis, um eine Richtschnur zum Handeln. Es geht also darum unter verschiedenen Verhaltensoptionen diejenige zu wählen die optimal ist.

Dazu muss es bestimmte Gründe geben. Und damit sind wir bei dem, was in Wikipedia so ausgedrückt wurde: Die Ethik befasst sich mit Moral, insbesondere hinsichtlich ihrer Begründbarkeit.

Und wenn es um eine Begründung geht, welche Handlungsoption ich wählen soll, dann hängt dies natürlich davon ab, ob diese Handlungsoption mich meinen Zielen näher bringt. Ich muss also als erstes meine Ziele untersuchen, um zu sehen, welche Strategie zielführend ist. Es geht also um das, was ich mit dem Titel des Vortrages „zielinduzierte Verhaltensoptimierung“ genannt habe, also den Versuch mein Verhaltens so zu optimieren, dass es nicht im Widerspruch zu meinen Zielen steht, sondern sich mit diesen im Einklang befindet.

Nun haben wir – jede, jeder von uns – jeweils ein ganzes Bündel an Zielen, und viele divergieren, stehen also im Widerspruch miteinander. Wir wollen z. B. vielleicht möglichst wenig arbeiten und dabei möglichst viel Geld verdienen. Diese beiden Ziele stehen in Konkurrent miteinander. Oder wir möchten all das genießen, was uns anturnt, was uns aufputscht, was uns einen Kitzel bietet und gleichzeitig möglichst gesund sein. Auch da handelt es sich um einen Zielkonflikt. Was uns fehlt ist also Integration, ist die erfolgreiche Bemühung, unsere divergierenden Wünsche und Persönlichkeitsanteile zu integrieren, gleichzurichten. Wenn wir gleichzeitig Gas geben und bremsen wollen, werden wir nicht weiterkommen, auch wenn ein Teil unseres Ich das Lenkrad nach links und ein anderer Teil nach rechts reißen will, führt das nicht zu einer sicheren zielgerichteten Fahrweise.

Das entscheidende Mittel zur Integration ist Meditation. Die buddhistische Meditation, die Meditationstechniken, die wir hier lehren, dient in den ersten Jahren vor allem dazu, uns zu integrieren. So lange wir nicht wirklich integriert sind, wird unser Handeln immer suboptimal sein, da es von divergierenden, widersprüchlichen Zielen und den aus ihnen abgeleiteten Strategien besteht.

Viele Menschen kamen auch zum Buddha und frugen diesen. Der Buddha erteilte den Menschen auf deren Bitten immer wieder Ratschläge. Bildlich gesprochen erteilte er manchen den Ratschlag „Gib Gas“ und anderen „Bremse Dich“, manchen erteilte er den Ratschlag „Steure etwas mehr nach links“ und anderen „lenke etwas mehr nach rechts“, je nachdem wie ihr Standpunkt, wie ihr Verhalten gerade war

Dies führte mitunter zu Irritationen, und so wurde der Buddha einmal mit der Frage konfrontiert: „Was ist der Dharma? Was ist deine Lehre?“

Die Person, die diese Frage stellte, war niemand anders als Mahaprajapati Gotami, die Tante und Stiefmutter des Buddha. Sie hatte ihn von klein auf erzogen, seit dem Tod seiner leiblichen Mutter wenige Tage nach seiner Geburt. In späterer Zeit wurde Mahaprajapati Gotami nicht nur zur Anhängerin seiner Lehre, sondern sie ist selbst, wie wir das nennen, in die Hauslosigkeit gezogen, nachdem sie diese Lehre aus seinem eigenen Mund vernommen hatte. Sie war davon derart beeindruckt, dass sie alle ihre Tätigkeiten, ihre sozialen Beziehungen, ihre Bindungen aufgab, um ihr ganzes Leben dem Praktizieren des Dharma zu widmen…

Mahaprajapati Gotami war längere Zeit ohne direkten Kontakt mit dem Buddha gewesen, daher war sie sich einigermaßen unsicher: einerseits wollte sie den Dharma praktizieren, andererseits war sie sich keineswegs sicher, was den Dharma letztendlich ausmachte. Das ist übrigens gar nicht so ungewöhnlich. Vielen von uns wird es zumindest auch zeitweise so gegangen sein, dass wir uns der Wahrheit widmen wollten, ohne ganz sicher zu sein, wie diese Wahrheit denn aussieht.

Und obwohl Mahaprajapati Gotami in direktem Kontakt mit einigen der Schüler des Buddha war und diese über die Gedanken des Buddha befragen konnte, waren doch deren Interpretationen mitunter sehr unterschiedlich; jeder von ihnen hatte seinen spezifischen Blickwinkel. Also entschloss sie sich schließlich, den Buddha selbst aufzusuchen um ihn zu fragen, was denn der Kern seiner Lehre sei. Also reiste sie dorthin, wo sich der Buddha gerade aufhielt und fragte ihn in aller Direktheit: „Was ist dein Dharma? Wie können wir wirklich wissen, was du lehrst? Was ist das entscheidende Kriterium, das zu erkennen?“ Und hier also die Übersetzung (nach Buddhadharma S. 123f) dessen, was der Überlieferung gemäß der Buddha Mahaprajapati Gotami bei dieser Gelegenheit sagte:

Von welchen Lehren du, Gotami, folgendes mit Sicherheit sagen kannst: „Diese Lehren führen zu Leidenschaften, nicht zur Leidenschaftslosigkeit; zur Mehrung (weltlichen) Gewinns, nicht zu dessen Abnahme; zu Habsucht, nicht zur Genügsamkeit; zu Unzufriedenheit, nicht zu Zufriedenheit; zu Geselligkeit, nicht zu Einsamkeit; zu Trägheit, nicht zu Energie; zur Freude am Schlechten, nicht zur Freude am Guten“ – von solchen Lehren, Gotami, kannst du mit Sicherheit sagen: „Dies ist nicht die Lehre. Dies ist nicht die Schulung. Dies ist nicht die Botschaft des Meisters:“

Doch von welchen Lehren du auch immer sagen kannst (dass sie das Gegenteil dessen sind, was ich gerade genannt habe) – von solchen Lehren kannst du mit Sicherheit sagen: „Dies ist die Lehre. Dies ist die Schulung. Dies ist die Botschaft des Meisters.“
(Vinaya II. 10)

Dies also ist das Kriterium in Buddhas eigenen Worten, das ist das grundlegende Prinzip. Der Dharma ist das, was der spirituellen Entwicklung des Individuums dient. Es ist das, was das Individuum in seiner oder ihrer eigenen Erfahrung findet, was zu ihrer oder seiner Entwicklung beiträgt.

Schauen wir uns die beiden Gegensätze noch einmal an:
 
Ziele buddhistischer Ethik Gegenteil dieser Ethik
Leidenschaftslosigkeit Leidenschaft
Mehrung spirituellen Gewinns Mehrung weltlichen Gewinns
Genügsamkeit Habsucht
Zufriedenheit Unzufriedenheit
Einsamkeit Geselligkeit
Energie Trägheit
Freude am Guten Freude am Schlechten

Wir werden vermutlich feststellen, dass, wenn wir ankreuzen sollten, was uns lieber ist, dass wir dann nicht immer auf der gleichen Seite unser Kreuz machen würden. Das zeigt den Zustand unserer spirituellen Desintegration. Die Ziele auf jeder der beiden Seiten gehen nämlich Hand in Hand, sie ergänzen einander, sie haben Vektoren in die gleiche Richtung. Langfristig müssen wir uns also für eine der beiden Gruppen entscheiden, wenn wir unsere verschiedenen Persönlichkeitsanteile integrieren wollen.

Nun das war die Antwort Buddhas auf Mahaprajapati Gotamis Frage. Vielleicht sind wir aber alle noch ein wenig desintergrierter als Mahaprajapati Gotami, und vielleicht wäre deshalb Buddhas Antwort auf unsere Frage etwas anders, zielgruppenspezifischer ausgefallen.

Ich möchte die Frage deshalb noch einmal neu stellen und sie dann selbst beantworten, beantworten mit dem, was ich hier im letzten halben Jahr erläutert habe, nämlich mit den niddanas, den Kettengliedern hier an der Wand.

Die Frage, die ich stelle, lautet dann also: Wo willst Du hin?

Und die Antwort liegt darin, dass sich der Mensch evolutionär betrachtet zwischen dem Tier und dem Buddha, dem Vollkommenen befindet.

Wenn ich die Frage nach dem Endziel stelle, so ist die Frage: Möchtest Du Dich zur Vollkommenheit entwickeln oder zur Unvollkommenheit hin? Möchtest Du zum Erhabenen hin streben oder zum Animalischen?

Nun kann man sagen, diese Frage ist suggestiv, vielleicht erscheint sie auch zu unbestimmt, weil wir uns unter dem Fernziel „Buddhaschaft“ oder „Vollkommenheit“ nichts Konkretes vorstellen können. Nun dann hilft eine Betrachtung der Etappenziele, die auf dem Weg zur Buddhaschaft durchschritten werden, sie stehen hier alle an der Wand, und ich habe sie im vergangenen halben Jahr erläutert. Die Frage lautet dann also,
 
 
Möchtest Du oder lieber
saddha – Vertrauen
Unsicherheit und Skeptizismus?
pamojja – Freude 
Leiden?
piti – Begeisterung
Langeweile?
passadhi – Beruhigung
Unruhe?
sukkha  – Glückseligkeit  
Trübsal?
samadhi – tiefe Meditation
Zerstreutheit?
yathabhuta-nana-dassana – sehen, wie die Dinge sind
Verblendung?
nibbida - Rückzug
Umherschweifen?
viraga - Leidenschaft
Leidenschaftslosigkeit?
vimutti - Freiheit  
Gefangenschaft?
 
Ich denke, mindestens bei den ersten fünf dieser Etappenziel ist es ziemlich eindeutig was wir wollen:

  • Wir ziehen Vertrauen der Unsicherheit vor,
  • wir ziehen Freude dem Leiden vor,
  • wir ziehen Begeisterung der Langeweile vor,
  • wir ziehen Beruhigung der Unruhe vor und
  • wir ziehen Glückseligkeit der Trübsal vor.
Wenn wir uns also für die jeweils erstgenannten Zwischenziele entscheiden, dann entscheiden wir uns für den spirituellen Pfad, den der Buddha empfiehlt. Und dann sollten wir uns anhören, was der Buddha auf diesem Pfad zu tun empfiehlt. Er sagt nämlich, es gelte drei Dinge zu entwickeln, nämlich

1. sila (Ethik)
2. auf der Basis von sila gilt es samadhi zu entwickeln, Meditation
3. und auf der Basis von sila und samadhi gilt es prajna zu entwickeln

Haben wir alles drei voll entwickelt, dann sprechen wir von Erleuchtung.

Für einige von euch ist es vielleicht überraschend, dass Meditation nicht an erster Stelle steht, sondern das Ethik die Basis ist. Aber vielleicht habt ihr auch in der Vergangenheit bemerkt, dass ihr in der Meditation hängen bleibt, dass sie sich nicht verbessern will. Das könnte daran liegen, dass die ihr zugrundeliegende Basis, nämlich Ethik, noch nicht genug entwickelt ist. Ich werde deshalb in den nächsten Monaten immer mal wieder buddhistische Ethik aufgreifen.

Buddhistische Ethik ist einerseits leichter als christliche, man braucht sich nämlich keine zehn Gebote zu merken, sondern nur fünf Empfehlungen.

Aber buddhistische Ethik ist andererseits auch viel schwieriger als christliche, es gibt nämlich keine klaren Gebote, also kein „Du sollst nicht…“, buddhistische Ethik besteht vielmehr aus Übungsfeldern und aus Empfehlungen für diese Übungsfelder. Und in jedem dieser Übungsfelder können wir vom Groben zu Feinen immer weiter üben.

Diese fünf Übungsfelder sind:

Panatipata Veramani Sikkhapadam Samadiyami
Adinnadana Veramani Sikkhapadam Samadiyami
Kamesu Micchachara Veramani Sikkhapadam Samadiyami
Musavada Veramani Sikkhapadam Samadiyami
Surameraya Majja Pamadatthana Veramani Sikkhapadam Samadiyami

Die Fünf Vorsätze (traditionell formuliert):

Ich nehme mir vor aufzuhören, Leben zu nehmen.
Ich nehme mir vor aufzuhören, Nicht-Gegebenes zu nehmen.
Ich nehme mir vor aufzuhören mit sexuellem Fehlverhalten.
Ich nehme mir vor aufzuhören, die Unwahrheit zu sprechen.
Ich nehme mir vor aufzuhören, Drogen zu nehmen.

Die Vorsätze (positiv formuliert):

Mit Taten liebevoller Güte läutere ich meinen Körper.
Mit großmütiger Hingabe läutere ich meinen Körper.
Mit Stille, Schlichtheit und Genügsamkeit läutere ich meinen Körper.
Mit ehrlicher und wahrhaftiger Sprache läutere ich meine Rede.
Mit hellwacher Achtsamkeit läutere ich meinen Geist.

Und wenn wir uns auf diesen fünf Geldern üben, dann gehen wir den Pfad der zu all diesen Erreichungen führt, von denen ich vorhin sprach, zu Freude, zu Begeisterung, zu Beruhigung, zur Glückseligkeit usw. Dann sind also unsere Handlungen zielführend, auf diese Zwischenziele ausgerichtet, die uns natürlich auch dem Endziel – Vollkommenheit – näher bringen. Und das ist auch der Grund, warum der Buddhismus die ansonsten in der Ethik verwendeten Begriffe „gut“ und „böse“ nicht verwendet. Buddhistische Ethik ist zielführende Ethik, ausgerichtet auf die genannten Zwischenziele und das Endziel Erleuchtung. Daher verwendet der Buddhismus die Begriffe kusala, d. h. geschickt, hilfreich, zielführend, bzw. akusala, also ungeschickt, nicht hilfreich, die eigenen Ziele sabotierend.

Wenn wir uns also zumindest mit den ersten Teilzielen, also Freude, Begeisterung, Beruhigung, Glückseligkeit identifizieren können, wenn wir diese anstreben wollen, dann empfehle ich, es einmal mit einer diesen Zielen entsprechenden, also zielinduzierten Verhaltensoptimierung zu versuchen. Und in diesem Sinne möchte ich in den nächsten Wochen diese Übungsfelder mit euch erörtern.


Zurück zur Meditation am Obermarkt

Zurück zu buddhistische Artikel und Vorträge